Montag, 16. Oktober 2023

 

Ein Mahnschreiben:

An die Leser des Hebräerbriefes!


Die Anrede: „Ihr heiligen Brüder, die ihr teilhabt an der himmlischen Berufung, …“ (Hebräer 3,1a) zeigt, an welche Personengruppe sich der Hebräerbrief wendet: seine Empfänger sind die im Namen Jesu Christi Getauften. Aber er spricht sie nicht in ihrer Gesamtheit an, sondern wendet sich vor allem an eine bestimmte Gruppe in der Gemeinde. Denn es stellt sich heraus, dass etliche Mitglieder dem Verfasser so große Sorgen machen, dass er sich die Mühe machte und einen Mahnbrief an sie schrieb.

Der Autor ist unbekannt geblieben, ebenso wenig lässt sich die Gruppe der Adressaten konkret benennen, und auch der Abfassungsort bleibt im Dunklen. In der Alten Kirche war man sich sicher, dass Paulus den Hebräerbrief geschrieben hat, aber moderne exegetische Untersuchungen haben dies widerlegt. Der unbekannte Briefschreiber verfügte über ein sehr gutes Griechisch und einen hohen theologischen Bildungsgrad - wie Paulus, aber inhaltlich vertritt der nunmehr namenlose Verfasser andere Positionen. Charakteristisch für den Hebräerbrief (und davon kommt auch sein Titel) ist der Vergleich zwischen Jesus und den Religionsführern aus dem Alten Testament, der den gesamten Brief durchzieht: Christus ist der Mittler des neuen Bundes, damit durch seinen Tod, der geschehen ist zur Erlösung von den Übertretungen unter dem ersten Bund, die Berufenen das verheißene ewige Erbe empfangen.“ (Hebräer 9,15)

Bereits der erste Bund wurde mit Blut gestiftet, indem es Moses von den getöteten Böcken nahm und das Volk damit besprengte und sprach: Seht, das ist das Blut des Bundes, den der Herr mit euch geschlossen hat auf Grund aller dieser Worte.“ (2 Mose 24,8) Auf die entscheidende Bedeutung dieses Opferkultes verweist der Schreiber des Hebräerbriefes in weiterer Folge: Und es wird fast alles mit Blut gereinigt nach dem Gesetz, und ohne Blutvergießen geschieht keine Vergebung.“ (Hebräer 9,22) Dieser Versöhnungs-Gedanke des Opferkults steht auch hinter der Rolle, die Jesus als Messias, als Erlöser von der Sünde, spielt. Aber es gibt einen großen Unterschied zwischen Jesus und den alttestamentlichen Religionsführern: denn im ersten Bund müssen die Blutopfer ständig wiederholt werden, aber im neuen Bund genügt das einmalige Blutopfer Jesu am Kreuz: „Und wie den Menschen bestimmt ist, einmal zu sterben, danach aber kommt das Gericht, so ist auch Christus einmal geopfert worden, die Sünden vieler wegzunehmen; zum zweiten Mal wird er nicht der Sünde wegen erscheinen, sondern denen, die auf ihn warten, zum Heil.“ (Hebräer 9, 27.28)

Mit dieser Botschaft „vom guten Wort Gottes und den Kräften der zukünftigen Welt.“ (Hebräer 6,5) gewannen die urchristlichen Missionare die Liebe der Heiden für Jesus Christus. Sein Evangelium von der Vergebung der Sünden überzeugte sie. Doch zu seinem Entsetzen muss nun der Schreiber des Hebräerbriefes feststellen, dass es in den christlichen Gemeinden Abgefallene von der frohen Botschaft gibt. Sie hatten als Getaufte die größte Zuversicht auf das ewige Leben im Reich Gottes und haben sich trotzdem vom Herrn abgewandt. Für das Verhalten der Abtrünnigen findet der Autor drastische Worte: Sie haben für sich selbst den Sohn Gottes abermals gekreuzigt und zum Spott gemacht.“ (Hebräer 6,6b) Er versteht nicht, warum sich diese Christen von Jesus los gesagt haben.

Die Entstehungszeit des Hebräerbriefes wird von Exegeten spätestens in das letzte Jahrzehnt des 1. Jahrhunderts gelegt. Das Christentum war in dieser Zeit nach wie vor in deutlicher Minderheit im Römischen Reich, aber es hatte bereits in der Gesellschaft Wurzeln geschlagen. Zwar war es unter den Kaisern Nero und Domitian zu gewalttätigen Aktionen gegen die Anhänger Jesu gekommen und viele mussten ihr Leben lassen, aber die systematischen Christenverfolgungen mit dem Ziel, die neue Religion auszurotten, haben erst unter dem Philosophenkaiser Marc Aurel (gestorben 180 n. Chr. an der Pest) eingesetzt. Im ausgehenden 1. Jahrhundert war die Lage für die christlichen Gemeinden nach wie vor keine einfache, aber es war ihnen eine leichte Entspannungspause gegönnt. Der Hebräerbrief spiegelt diese Realität wider. Es geht nicht um die Bedrohung durch Irrlehrer oder die Staatsmacht, und auch die Missionsarbeit steht nicht mehr im Vordergrund. Es scheint eine Zeit angebrochen zu sein, in der sich die Kirche in der heidnischen Gesellschaft konsolidieren und in Ruhe entfalten konnte.

Der Autor hat deshalb nicht erwartet, neuerlich von dem predigen zu müssen, was am Anfang über Christus gelehrt wurde - denn eigentlich wissen ohnehin schon alle Gemeindemitglieder darüber Bescheid, wie er meint. Er sollte also nicht abermals an die Fundamente christlicher Lehre erinnern müssen. Und doch sieht der besorgte Briefschreiber aufgrund von Missständen, die sich in den christlichen Gemeinden zunehmend ausbreiten, seine Verpflichtung darin, wieder zur Hinwendung zum rechten christlichen Leben aufzurufen. Enttäuscht wirft er seinen Glaubensgeschwistern vor: Und ihr, die ihr längst Lehrer sein solltet, habt es wieder nötig, dass man euch die Anfangsgründe der göttlichen Worte lehre“ (Hebräer 5, 12)

Sein Vorwurf an die Adressaten wiegt schwer, sie seien so harthörig geworden. Das soll wohl bedeuten, dass das Desinteresse an Jesus in den christlichen Gemeinden zunimmt. Die Klage über nachlassenden Glauben und Gottesdienstbesuche kommt überraschend, denn noch ist das Christentum als Teil der Gesellschaft nicht abgesichert, und die Zukunft hängt allein von der Festigkeit des Glaubens und des Zusammenhalts ab. Der Appell des Briefschreibers ist eindringlich: Lasst uns festhalten an dem Bekenntnis der Hoffnung und nicht wanken; denn er ist treu, der sie verheißen hat; und lasst uns anreizen zur Liebe und zu guten Werken; und nicht verlassen unsre Versammlungen, wie einige zu tun pflegen.“ (Hebräer 10,23-25a)

Der Verfasser belässt es nicht dabei, zur Solidarität und Treue im Glauben aufzurufen, er erinnert auch an den früheren Opfermut der Christen. Der Autor hofft, damit das Gewissen der Abtrünnigen aufrütteln und sie zur Umkehr bewegen zu können. Jene, die in den blutigen Verfolgungen Jesus Christus treu geblieben sind, sollen den Untreuen Vorbild sein: Gedenkt an die früheren Tage, an denen ihr erleuchtet wart, erduldet habt einen großen Kampf des Leidens,“ (Hebräer 10,32)

In dramatischen Schilderungen erinnert der Briefschreiber an die schwere Zeit der Verfolgungen, die die Christen vor nicht allzu langer Zeit erdulden mussten: Denn ihr habt mit den Gefangenen gelitten und den Raub eurer Güter mit Freuden erduldet, weil ihr wisst, dass ihr eine bessere und bleibende Habe besitzt.“ (Hebräer 10,34) Sehr viele Christen sind gemartert worden und haben Spott und Geißelung erlitten, dazu Fesseln und Gefängnis. Gemeindemitglieder sind gesteinigt oder durchs Schwert getötet worden; sie haben Mangel, Bedrängnis, Misshandlung erduldet. Öffentliche Hinrichtungen von Christen dienten der Belustigung der römischen Bevölkerung. Im Hinblick auf die schwere Zeit der Bedrängnis äußert der Verfasser den Wunsch: „dass jeder von euch denselben Eifer beweise, die Hoffnung festzuhalten bis ans Ende, damit ihr nicht träge werdet, sondern Nachfolger derer, die durch Glauben und Geduld die Verheißungen erben.“ (Hebräer 6,11.12)

Der Autor greift auch auf eine Predigt vom Reich Gottes zurück, in der Jesus das Gleichnis von der Distel erzählt hat: Einiger Samen fiel unter die Dornen; und die Dornen wuchsen empor und erstickten ihn.“ (Matthäus 13,7) Das scheint auf die Gemeinde, an die sich der Verfasser des Hebräerbriefes wendet, nunmehr zuzutreffen. Er erweitert das Beispiel von Jesus, um seinen Lesern ihre Optionen zu verdeutlichen, was ein Leben mit dem Messias bzw. ohne den Messias bedeutet: Denn die Erde, die den Regen trinkt, der oft auf sie fällt und nützliche Frucht trägt denen, die sie bebauen, empfängt Segen von Gott. Wenn sie aber Dornen und Disteln trägt, bringt sie keinen Nutzen und ist dem Fluch nahe, so dass man sie zuletzt abbrennt.“ (Hebräer 6,7.8)

Mit seinem Mahnschreiben verknüpft der Autor die Hoffnung, dass es doch wieder besser wird mit den Abtrünnigen, und sie zurückfinden in die christliche Gemeinschaft. Denn Gott ist nicht ungerecht: er vergisst nicht die Werke und die Liebe, die diese zuvor in seinem Namen erwiesen haben. Gott reagiert mit Milde: Denn ich will gnädig sein ihrer Ungerechtigkeit, und ihrer Sünden will ich nicht mehr gedenken!“ (Hebräer 8,12)

Die Liebe Gottes und seine Gnade sind unendlich groß, und die, die gestrauchelt sind, sollten sie dankbar annehmen und umkehren. Deshalb ruft der Briefschreiber den Adressaten eindringlich zu: Lasst uns festhalten an dem Bekenntnis der Hoffnung und nicht wanken; denn Gott ist treu, der sie verheißen hat.“ (Hebräer 10,23)

Der Verfasser des Hebräerbriefes weist trotz seiner Besorgnis wegen der zahlreichen Abtrünnigen darauf hin, dass die Mehrheit in der Kirche verbleibt und um den Glauben an den Messias bemüht ist: „Wir aber sind nicht von denen, die zurückweichen und verdammt werden, sondern von denen, die glauben und die Seele erretten.“ (Hebräer 10,39) Auf diese Standhaften kann die christliche Religion sowohl in Zeiten der Bedrohung als auch in guten Zeiten bauen – und das schon seit mehr als 2000 Jahren: Darum lasst uns hinzutreten mit Zuversicht zu dem Thron der Gnade, damit wir Barmherzigkeit empfangen und Gnade finden zu der Zeit, wenn wir Hilfe nötig haben.“ (Hebräer 4,16)


1 Kommentar:

  1. Ich habe den Eindruck, dass diese Mahnungen auch an uns heutzutage gehen. Viele wenden sich ab, obwohl es ihnen gut geht und sie das Wort kennen, oder lesen können zumindest.

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