Esau und Jakob und der Weg der Vergebung
Erzvater Abraham war alt geworden, seine Frau Sara bereits gestorben – aber die Zukunft der Sippe war nicht gesichert. Ihr einziger Sohn und Erbe Isaak hatte noch nicht geheiratet. Zwar war er noch ein junger Mann, weil seine Eltern bei seiner Geburt bereits betagt waren, aber der verwitwete Abraham möchte noch erleben, dass das Weiterbestehen der Familie durch Enkel abgesichert ist.
Abraham beauftragte seinen ältesten Knecht, der allen seinen Gütern vorstand, in den Norden Mesopotamiens zu reisen und aus seiner dort lebenden Verwandtschaft eine Schwiegertochter zu wählen. Nahor, der Bruder Abrahams, war einst mit seiner Familie nicht mit nach Kanaan gezogen. Aus diesem Zweig der Großfamilie sollte nun dem Isaak eine Ehefrau gebracht werden.
Der Knecht nahm zehn Kamele und allerlei Geschenke und zog zur Brautwerbung los. Nach langer Reise kam er des Abends am Zielort an. Bevor er nach dem Haus des Nahor suchte, gönnte der Knecht sich und den Tieren eine Pause und lagerte draußen vor der Stadt beim Wasserbrunnen. Der Abend war jene Zeit, zu der die Frauen herauszugehen und Wasser zu schöpfen pflegten. Dies wissend überlegte der Knecht, ob unter den zahlreichen Mädchen Gott nicht eines für den Sohn Abrahams vorgesehen habe.
Kaum hatte der Knecht diesen Plan gefasst, kam ein Mädchen, das sich so verhielt: es war Rebekka, die Großnichte Abrahams. Die junge Frau lebte mit ihrem Bruder Laban im Haus ihres Vaters Betuel, die beide der Brautwahl zustimmten. Ebenso Rebekka selbst, die freiwillig Heimat und Familie für den Ehemann in der Fremde verließ. Gott hatte Abrahams Wunsch nach einer Schwiegertochter aus der Sippe erfüllt. In Kanaan angekommen übergab der Knecht Isaak die Braut: „Da führte sie Isaak in das Zelt seiner Mutter Sara und nahm die Rebekka, und sie wurde seine Frau, und er gewann sie lieb. Also wurde Isaak getröstet über den Tod seiner Mutter.“ (Genesis 24,67)
Die Ehe wurde aber bald von einem Problem überschattet, das schon Isaaks Eltern belastet hatte: es stellte sich bei Rebekka keine Schwangerschaft ein. Erst nach einer langen Zeit des Wartens schenkte Rebekka Kindern das Leben, und dann gleich zwei auf einmal: den Zwillingssöhnen Esau und Jakob. Die Freude war groß, der Weiterbestand der Patriarchensippe war gesichert, der Hausfrieden allerdings nicht.
Die beiden Brüder standen sich – wie die weitere Geschichte zeigen sollte – nicht nahe. Schon äußerlich sahen sie nicht wie Zwillinge aus. Esaus Gestalt wird folgendermaßen beschrieben: „Er war der erste, der herauskam, war rötlich, ganz rauh wie ein Fell.“ (Genesis 25,25) Von Jakobs Äußerem erfahren wir zunächst nichts, erst in der Betrugsgeschichte um den Erstgeburtssegen weist Jakob darauf hin, dass er zum Unterschied zu seinem Bruder eine glatte Haut hat. Zudem entwickelten die beiden Buben unterschiedliche Interessen, „so wurde Esau ein Jäger und streifte auf dem Feld herum, Jakob aber ein gesitteter Mann, der bei den Zelten blieb.“ (Genesis 25,27)
Für ihre Zukunft sollte entscheidend sein, dass die Eltern ihre Liebe nicht auf beide Kinder gleich verteilten: „Und Isaak hatte Esau lieb und aß gerne von seinem Wildbret; Rebekka aber hatte Jakob lieb.“ (Genesis 25,28) Diese Haltung sollte dazu führen, dass aus den Brüdern Feinde wurden.
Es war zur damaligen Zeit in den Sippen üblich, dass der Vater seinen ältesten Sohn mit einem formalen Segen zu seinem Nachfolger und Alleinerben ernannte. Diese Erhebung wäre Esau zugestanden. Das wollte aber die Mutter verhindern. Rebekka fiel ihrem Mann und ihrem ältesten Sohn in den Rücken, um ihrem Liebling Jakob ein Erbe zu verschaffen, das diesem als dem Jüngeren nicht zustand. Über die Auswirkungen auf das Zusammenleben der Brüder machte sie sich keine Gedanken.
Oder hatte ihr Jakob erzählt, dass Esau leichtfertig für ein simples Linsengericht auf sein Erstgeburtsrecht verzichtet hatte? Wie die weitere Geschichte aber zeigen sollte, hatte Esau es nicht so ernst gemeint mit dem Verzicht, er blieb schließlich auch danach immer noch der Ältere. Doch wir können die große Entfremdung zwischen den Brüdern erkennen: warum hat Jakob den hungrigen und müden Esau nicht einfach eingeladen, mit ihm mitzuessen? Wäre das unter Geschwistern nicht naheliegend gewesen? Auch Jakob scheint nur aus einer Laune heraus den Bruder zu dem „fragwürdigen Geschäft“ überredet zu haben, denn er unternahm danach nichts weiter, um sich nunmehr als „Erstgeborener“ dem Vater zu präsentieren. Das Linsengericht blieb ein Geheimnis unter den Brüdern ohne sichtbare Konsequenzen auf ihr Verhalten in der Familie.
Hass gegen seinen Bruder loderte in Esau auf. Diesen hinterhältigen Betrug, der ihn um alles brachte, wollte er nicht einfach hinnehmen, er sagte zu sich: „Es wird die Zeit bald kommen, dass man um meinen Vater Leid tragen muss, dann will ich meinen Bruder Jakob umbringen.“ (Genesis 27,41b) Rebekka wurden Esaus Morddrohungen zugetragen, und sie beschloss, das Leben ihres Lieblings zu retten, auch wenn es bedeutete, dass er die Familie verlassen musste. Sie ließ ihn unter dem Vorwand, dass er sich eine passende Frau aus ihrer mesopotamischen Familie suchen sollte, mit Isaaks Einverständnis abreisen. So hatte es einst Abraham auch für Isaak gehandhabt, und Jakobs Abschied sah nicht nach Flucht, sondern nach legitimer Brautschau aus.
Jakob wurde von den Verwandten seiner Mutter willkommen geheißen. Rebekkas Vater und Bruder lebten wie die kanaanitischen Verwandten von der Kleintierzucht mit Schafen und Ziegen. Jakob brachte sich als Arbeitskraft ein, wurde Hirte, heiratete seine beiden Cousinen Lea und Rahel und wurde Vater einer großen Kinderschar.
Dann jedoch verschlechterte sich das anfangs so harmonische Verhältnis zu seinem Onkel Laban und dessen Söhnen. Jakob hatte sich durch Fleiß zu einem erfolgreichen Viehhirten entwickelt, aber sein Reichtum erweckte Neid und Missgunst. Es kam zu Streitigkeiten in der Sippe. In Jakob begann die Sehnsucht nach der alten Heimat immer größer zu werden. Aber dort lebte Esau, vor dessen Morddrohungen er einst geflohen war.
Wie war es nun Esau ergangen, nachdem ihn sein Bruder um sein Erbe gebracht hatte? Nachdem Jakob weggegangen war, versuchte Esau die Beziehung zu den Eltern zu verbessern. Nachdem er begriffen hatte, dass es Isaak und Rebekka sehr wichtig war, innerhalb der Großsippe die Beziehungen durch Heirat enger zu knüpfen, sah er sich nach einer geeigneten Braut in der kanaanitischen Verwandtschaft um. So heiratete er zusätzlich zu seinen beiden hethitischen Frauen eine Tochter Ismaels. Insgesamt wurden ihm 5 Söhne geboren. Und außerdem entsagte Esau der Jagd und wandte sich dem Beruf von Großvater und Vater zu, wurde wie sie Hirte und gründete seine eigene Herde. Da er sich seine eigene Existenz erst aufbauen musste, weil er nicht der Erbe war, zog er aus Kanaan weg und siedelte sich im Lande Seir im Gebiet von Edom an. Wie auch immer sich die Familiensituation nach Jakobs Abreise entwickelt hatte, eines blieb: der Erstgeburtssegen gehörte Jakob, und dessen war sich Esau auch bewusst. Deshalb ließ er Kanaan hinter sich und fing im Nachbarland Edom neu an.
Jakob hatte Esau auch von Mesopotamien aus nicht aus den Augen verloren, hatte erfahren, wo der Bruder lebte. Kontakt hatten die beiden keinen, sodass Jakob nicht wusste, ob Esau ihn immer noch hasste und töten wollte. Jakob beschloss trotzdem die Heimreise zu riskieren und machte sich mit Frauen, Kindern, Gesinde und Herden auf den Weg nach Kanaan. Und wenn Esau auch nicht mehr in Kanaan selbst lebte, so waren die geographischen Verhältnisse so beengt, dass man sich nicht aus dem Weg gehen konnte.
Jakob war fest entschlossen, dem Bruder zu zeigen, wie sehr er seinen Verrat an ihm bereute, in der Hoffnung, dass Esau zur Versöhnung bereit war. Würde es ihm gelingen? Er schickte einen Boten zu Esau mit der unterwürfigen Bitte, als sein Knecht Gnade vor seinen Augen zu finden. Der Bote berichtete nach seiner Rückkehr, dass ihm Esau mit 400 Mann entgegen zog. Das klang sehr bedrohlich, und Jakob überkam große Angst. Er fasste den Plan, den Bruder materiell zu entschädigen, und so stellte er eine große Herde als Geschenk zusammen. Damit hoffte er den vermeintlich wütenden Bruder zu besänftigen: er hatte einst den Älteren durch Betrug um allen Besitz gebracht und wollte ihm diesen Verlust nun ersetzen.
Und dann kam der entscheidende Augenblick: die Brüder, die vor vielen Jahren in Feindschaft voneinander geschieden waren, standen einander gegenüber. Würde sich Esau nun endlich für den Betrug rächen können? Jakob rechnete fest damit, aber dann kam alles ganz anders: „Esau aber lief ihm entgegen und herzte ihn und fiel ihm um den Hals und küsste ihn, und sie weinten.“ (Genesis 33,4) Verwirrt trug Jakob dem Bruder sein Geschenk an, aber Esau lehnte ab: er habe genug Besitz, er brauche nicht mehr. Er freue sich einfach, den Bruder endlich nach Jahren der Feindschaft versöhnlich in die Arme schließen zu können. In Zukunft würde für ihr Leben gelten, was der Psalmist gebetet hatte: „Siehe, wie fein und lieblich ist’s, wenn Brüder einträchtig beieinander wohnen.“ (Psalm 133,1) Voller Glück und in ungetrübter brüderlicher Liebe schieden die beiden voneinander: Jakob siedelte sich als neuer Erzvater in Kanaan, dem Wohngebiet der Patriarchen Abraham und Isaak, an, Esau kehrte in seine neue Heimat Seir zurück.
Ihr Schicksal macht uns deutlich, was Jesus meinte, wenn er in seinen Predigten die Vergebungsbereitschaft als wichtigste christliche Tugend einforderte. Nichts kann die Gemeinschaft von Christen harmonischer gestalten als gelebte Nächstenliebe, die ihren Ausdruck darin findet, dass sie das Böse nicht zurechnet. Simon Petrus wollte es genau wissen und fragte Jesus: „Herr, wie oft muss ich denn meinem Bruder, der an mir sündigt, vergeben? Genügt es siebenmal? Und Jesus antwortete ihm: Ich sage dir: nicht siebenmal, sondern siebzigmal siebenmal!“ (Matthäus 18,21.22)
Damit meinte Jesus natürlich nicht, dass man eine Stricherlliste führen soll und bei 490 ist dann Schluss, sondern dass Nachsicht keine Grenzen hat. Denn jeder von uns hat Schwächen und ist froh, wenn diese von den Mitmenschen nicht angerechnet werden. Bekanntlich lernt man aus manchen Fehlern nicht wirklich und wird oft genug zum „Wiederholungstäter“. Das belastet das Zusammenleben der Menschen. Immer wieder zu vergeben, ist irgendwann schwer einzusehen, und man beginnt Groll zu hegen. Und doch verlangt Jesus genau dies, ständig aufs Neue zu verzeihen, wenn man seinen christlichen Glauben ernst nimmt.
Für Christen steht an erster Stelle das Streben, für Gott zu leben. Ihm zu dienen und nach seinen Geboten zu handeln, ist wichtiger als alles andere. Dazu gehört vor allem, Gottes Liebe und Nachsicht nicht durch Hartherzigkeit aufs Spiel zu setzen: „Denn wenn ihr den Menschen ihre Verfehlungen vergebt, so wird euch euer himmlischer Vater auch vergeben. Wenn ihr aber den Menschen nicht vergebt, so wird euch euer Vater eure Verfehlungen auch nicht vergeben.“ (Matthäus 6,14.15)
Dass Vergebung nicht nur von Gott erwartet werden kann, sondern auch dem Mitmenschen erteilt werden muss, wenn man glaubwürdig christlich leben will, gibt uns Jesus in dem Gebet, das er uns gelehrt hat, mit auf den Weg: „Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern“ (Vaterunser, Matthäus 6,12) Es wird uns oft schwer fallen, aber wer sagt, dass es für Gott immer leicht ist?
Ein sehr spannender und interessanter Beitrag! War sehr fesselnd :)
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