Jesus
predigt in Nazareth
Jesus
war wie die meisten anderen jüdischen Kinder seiner Zeit
aufgewachsen. Joseph, der Vater, übte in dem kleinen Ort Nazareth
den Beruf des Zimmermanns aus und konnte damit seine ständig
wachsende Familie gut ernähren. Denn von einer entbehrungsreichen
Kindheit berichten die Evangelisten nichts. Maria, die Mutter,
kümmerte sich um den Haushalt und versorgte die Kinderschar. Es wird
in den Schriften des Neuen Testaments auch nichts darüber berichtet,
dass die Familie von Jesus ein Außenseiter gewesen wäre.
Wir können
davon ausgehen, dass in Nazareth ein beschauliches Dorfleben
stattfand, in dem nichts darauf hinwies, dass einer von dort als
Messias die Welt verändern wird.
Schulunterricht
gab es in Israel damals nur für die Knaben. Die Buben begannen mit
ungefähr fünf Jahren die Elementarschule zu besuchen. Die Kinder
saßen ihrem Lehrer entweder in einem Haus oder im Freien unter einem
schattigen Baum zu Füßen und hörten ihm zu. Sie lernten schreiben
und lesen, aber in erster Linie erwarben die Schüler ihr Wissen
durch Auswendiglernen. Der Lehrstoff bestand hauptsächlich aus
Religion. Für die ersten Schuljahre war dies die Thora, das Gesetz
Mose. Für die weiterführenden Schulen, die die Knaben mit zehn
Jahren besuchen konnten, kamen die mündlichen Gesetze dazu.
Aber
auch außerhalb der Schule gab es Unterricht über den Glauben. Die
Kinder gingen mit den Eltern am Sabbat in die Synagoge und folgten
aufmerksam den Predigten der Priester und Schriftgelehrten. Dort
hörten auch die Mädchen die Texte der heiligen Bücher. Für sie
war kein Schulunterricht vorgesehen. Die Mädchen wurden in
Haushaltsführung von der Mutter unterwiesen und lernten auf diese
Weise die Vorschriften und Gebote ihrer Religion kennen.
Jesus
war offenbar ein gelehriger Schüler, denn er kannte sich später als
Wanderprediger in den heiligen Schriften so gut aus, dass er mit den
Pharisäern und Schriftgelehrten auf Augenhöhe diskutieren konnte.
Ob er schon als Schüler seine Lehrer durch kritische Fragen
herausgefordert hat, wissen wir nicht. Aber die überraschte Reaktion
der Leute aus Nazareth, als Jesus sich als Erwachsener in ihrer
Synagoge als Messias zu erkennen gab, lässt doch darauf schließen,
dass er ein unauffälliges Kind war.
Eines
Tages brach Jesus aus seinem traditionellen Leben aus, verließ
Heimatort und Familie und ließ sich am Jordan von Johannes taufen.
Was er danach tat, wusste man bald auch in seiner Vaterstadt: „Und
Jesus kam mit der Kraft des Geistes wieder nach Galiläa, und die
Kunde von ihm erscholl durch alle umliegenden Orte. Und er lehrte in
ihren Synagogen und wurde von jedermann gepriesen.“ (Lukas
4,14.15) Doch als er nach Nazareth zurückkam, war er in seiner neuen
Rolle nicht willkommen. Anfangs
überwog noch die Neugierde. Da die Leute gehört hatten, dass Jesus
in Galiläa öffentlich predigte und die Zuhörer begeistert waren,
wollten sie ihn auch in Nazareth hören.
Es war gerade Sabbat, und
Jesus ging mit den anderen Bewohnern in die Synagoge. Man reichte ihm
das Buch des Propheten Jesaja, wo geschrieben steht: „Der
Geist des Herrn ist auf mir, weil er mich gesalbt hat. Er
hat mich gesandt, den Elenden gute Botschaft zu bringen, die
zerbrochenen Herzen zu verbinden, zu verkündigen den Gefangenen die
Freiheit,
den Gebundenen, dass sie frei und ledig sein sollen.“
(Jesaja 61,1) Dann schloss er das Buch, gab es dem Diener und begann
zu predigen. Alle Augen waren erwartungsvoll auf ihn gerichtet. Wie
würde Jesus diese Textstelle auslegen? „Und
er fing an zu ihnen zu reden: Heute ist dieses Wort der Schrift
erfüllt vor euren Ohren!“ (Lukas 4,21) Die Zuhörer konnten
nicht glauben, was ihnen Jesus verkündete: er sei der von Jesaja
prophezeite Messias, der Sohn Gottes, der die Menschen von ihren
Sünden erlösen und mit Gott versöhnen wird. Er sei der Heiland,
auf dessen Kommen Israel seit langem voller Sehnsucht wartet.
Empörung machte sich breit: „Ist er nicht
der Zimmermann, Marias Sohn, und der Bruder des Jakobus und Joses und
Judas und Simon? Sind nicht auch seine Schwestern hier bei uns?“
(Markus 6,3) Wie konnte also einer aus ihrer Gemeinschaft, den sie
seit seiner Kindheit kannten, so einen unglaublichen Anspruch
erheben?
Aus der Empörung wurde Wut, die in Gewalt umschlug: „Und
alle, die in der Synagoge waren, wurden von Zorn erfüllt, als sie
das hörten. Und sie standen auf und stießen ihn zur Stadt hinaus
und führten ihn an den Abhang des Berges, auf dem ihre Stadt gebaut
war, um ihn hinabzustürzen.“ (Lukas 4,28.29)
Der
Fels, von dem sie Jesus in den Tod stürzen wollten, um ihn zum
Schweigen zu bringen, kann symbolisch für das christliche Abendland
stehen. Im Mittelalter hat die Kirche in Europa die christliche Lehre
zum Fundament aufgebaut, auf dem eine gläubige Gesellschaft voller Nächstenliebe entstehen
konnte. Die Menschen glaubten fest daran, dass Jesus der Messias ist und
seine Worte vom Himmelreich ihnen die bedingungslose Liebe Gottes vor
Augen führten. Das
gab ihrem Leben Geborgenheit,
weil sie wussten, dass
Gott für sie im
Diesseits da ist, und
es nach dem Tod die Hoffnung auf das ewige Leben in seinem Reich
gibt. Aber
in unserer Zeit lehnen
immer mehr Menschen Jesus eben
wegen seiner Lehre von
der Erlösung der Sünden am Kreuz und seiner leiblichen Auferstehung
von den Toten ab. Das
alles sei gegen jedes Naturgesetz, und man könne es auch gar nicht
beweisen usw. wird argumentiert und damit Jesus seiner göttlichen
Herkunft entkleidet.
Damit werden aber die Grundpfeiler des
christlichen Glaubens ausgehöhlt und aus dem Fels, auf dem die
Kirche erbaut wurde, wird zunehmend Sand, auf dem sie wegrutscht.
Könnte also auch für uns im christlichen Abendland das gelten, was
Jesus zu den Zuhörern damals in Nazareth sagte: „Ein
Prophet gilt nirgends weniger als in seinem Vaterland und in seinem
Haus.“ (Matthäus 13,57)
Es
wiederholt sich offenbar die Geschichte. So wie damals in Nazareth
ist Jesus heute im christlichen Abendland als Messias kaum mehr
willkommen. Damals wollten die Bewohner von Nazareth seine göttliche
Herkunft nicht akzeptieren, weil sie ihn doch hatten aufwachsen
sehen. Heute wollen auch Gläubige in der Religion nur die Inhalte
haben, die man sehen und beweisen kann, und religiöses Leben
beschränkt sich zunehmend auf die Einhaltung von Alltagsregeln. Das
hat Folgen für Bedeutung des Evangeliums. Als guter Mensch und
Prediger der Nächstenliebe geht Jesus gerade noch als Vorbild durch
(in Konkurrenz mit vielen anderen), aber von seiner göttlichen
Erlösungsaufgabe wollen immer weniger Christen etwas wissen. Wird Jesus doch noch als Messias in den Abgrund gestürzt? Nicht, wenn
wir auf Jesus vertrauen. Denn dann haben wir die Hoffnung, dass es
heute in unserer Zeit genauso wenig gelingt wie damals: „Aber
er ging mitten durch sie hinweg.“ (Lukas 4,30) Jesus ist der
Messias – auch wenn es immer weniger glauben wollen.
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