Sonntag, 6. Januar 2019


Jesus predigt in Nazareth

Jesus war wie die meisten anderen jüdischen Kinder seiner Zeit aufgewachsen. Joseph, der Vater, übte in dem kleinen Ort Nazareth den Beruf des Zimmermanns aus und konnte damit seine ständig wachsende Familie gut ernähren. Denn von einer entbehrungsreichen Kindheit berichten die Evangelisten nichts. Maria, die Mutter, kümmerte sich um den Haushalt und versorgte die Kinderschar. Es wird in den Schriften des Neuen Testaments auch nichts darüber berichtet, dass die Familie von Jesus ein Außenseiter gewesen wäre. 


Wir können davon ausgehen, dass in Nazareth ein beschauliches Dorfleben stattfand, in dem nichts darauf hinwies, dass einer von dort als Messias die Welt verändern wird.

Schulunterricht gab es in Israel damals nur für die Knaben. Die Buben begannen mit ungefähr fünf Jahren die Elementarschule zu besuchen. Die Kinder saßen ihrem Lehrer entweder in einem Haus oder im Freien unter einem schattigen Baum zu Füßen und hörten ihm zu. Sie lernten schreiben und lesen, aber in erster Linie erwarben die Schüler ihr Wissen durch Auswendiglernen. Der Lehrstoff bestand hauptsächlich aus Religion. Für die ersten Schuljahre war dies die Thora, das Gesetz Mose. Für die weiterführenden Schulen, die die Knaben mit zehn Jahren besuchen konnten, kamen die mündlichen Gesetze dazu.

Aber auch außerhalb der Schule gab es Unterricht über den Glauben. Die Kinder gingen mit den Eltern am Sabbat in die Synagoge und folgten aufmerksam den Predigten der Priester und Schriftgelehrten. Dort hörten auch die Mädchen die Texte der heiligen Bücher. Für sie war kein Schulunterricht vorgesehen. Die Mädchen wurden in Haushaltsführung von der Mutter unterwiesen und lernten auf diese Weise die Vorschriften und Gebote ihrer Religion kennen.

Jesus war offenbar ein gelehriger Schüler, denn er kannte sich später als Wanderprediger in den heiligen Schriften so gut aus, dass er mit den Pharisäern und Schriftgelehrten auf Augenhöhe diskutieren konnte. Ob er schon als Schüler seine Lehrer durch kritische Fragen herausgefordert hat, wissen wir nicht. Aber die überraschte Reaktion der Leute aus Nazareth, als Jesus sich als Erwachsener in ihrer Synagoge als Messias zu erkennen gab, lässt doch darauf schließen, dass er ein unauffälliges Kind war.

Eines Tages brach Jesus aus seinem traditionellen Leben aus, verließ Heimatort und Familie und ließ sich am Jordan von Johannes taufen. Was er danach tat, wusste man bald auch in seiner Vaterstadt: „Und Jesus kam mit der Kraft des Geistes wieder nach Galiläa, und die Kunde von ihm erscholl durch alle umliegenden Orte. Und er lehrte in ihren Synagogen und wurde von jedermann gepriesen.“ (Lukas 4,14.15) Doch als er nach Nazareth zurückkam, war er in seiner neuen Rolle nicht willkommen. Anfangs überwog noch die Neugierde. Da die Leute gehört hatten, dass Jesus in Galiläa öffentlich predigte und die Zuhörer begeistert waren, wollten sie ihn auch in Nazareth hören. 

Es war gerade Sabbat, und Jesus ging mit den anderen Bewohnern in die Synagoge. Man reichte ihm das Buch des Propheten Jesaja, wo geschrieben steht: „Der Geist des Herrn ist auf mir, weil er mich gesalbt hat. Er hat mich gesandt, den Elenden gute Botschaft zu bringen, die zerbrochenen Herzen zu verbinden, zu verkündigen den Gefangenen die Freiheit, den Gebundenen, dass sie frei und ledig sein sollen.“ (Jesaja 61,1) Dann schloss er das Buch, gab es dem Diener und begann zu predigen. Alle Augen waren erwartungsvoll auf ihn gerichtet. Wie würde Jesus diese Textstelle auslegen? „Und er fing an zu ihnen zu reden: Heute ist dieses Wort der Schrift erfüllt vor euren Ohren!“ (Lukas 4,21) Die Zuhörer konnten nicht glauben, was ihnen Jesus verkündete: er sei der von Jesaja prophezeite Messias, der Sohn Gottes, der die Menschen von ihren Sünden erlösen und mit Gott versöhnen wird. Er sei der Heiland, auf dessen Kommen Israel seit langem voller Sehnsucht wartet. Empörung machte sich breit: „Ist er nicht der Zimmermann, Marias Sohn, und der Bruder des Jakobus und Joses und Judas und Simon? Sind nicht auch seine Schwestern hier bei uns?“ (Markus 6,3) Wie konnte also einer aus ihrer Gemeinschaft, den sie seit seiner Kindheit kannten, so einen unglaublichen Anspruch erheben? 

Aus der Empörung wurde Wut, die in Gewalt umschlug: „Und alle, die in der Synagoge waren, wurden von Zorn erfüllt, als sie das hörten. Und sie standen auf und stießen ihn zur Stadt hinaus und führten ihn an den Abhang des Berges, auf dem ihre Stadt gebaut war, um ihn hinabzustürzen.“ (Lukas 4,28.29)

Der Fels, von dem sie Jesus in den Tod stürzen wollten, um ihn zum Schweigen zu bringen, kann symbolisch für das christliche Abendland stehen. Im Mittelalter hat die Kirche in Europa die christliche Lehre zum Fundament aufgebaut, auf dem eine gläubige Gesellschaft voller Nächstenliebe entstehen konnte. Die Menschen glaubten fest daran, dass Jesus der Messias ist und seine Worte vom Himmelreich ihnen die bedingungslose Liebe Gottes vor Augen führten. Das gab ihrem Leben Geborgenheit, weil sie wussten, dass Gott für sie im Diesseits da ist, und es nach dem Tod die Hoffnung auf das ewige Leben in seinem Reich gibt. Aber in unserer Zeit lehnen immer mehr Menschen Jesus eben wegen seiner Lehre von der Erlösung der Sünden am Kreuz und seiner leiblichen Auferstehung von den Toten ab. Das alles sei gegen jedes Naturgesetz, und man könne es auch gar nicht beweisen usw. wird argumentiert und damit Jesus seiner göttlichen Herkunft entkleidet. 

Damit werden aber die Grundpfeiler des christlichen Glaubens ausgehöhlt und aus dem Fels, auf dem die Kirche erbaut wurde, wird zunehmend Sand, auf dem sie wegrutscht. Könnte also auch für uns im christlichen Abendland das gelten, was Jesus zu den Zuhörern damals in Nazareth sagte: „Ein Prophet gilt nirgends weniger als in seinem Vaterland und in seinem Haus.“ (Matthäus 13,57)

Es wiederholt sich offenbar die Geschichte. So wie damals in Nazareth ist Jesus heute im christlichen Abendland als Messias kaum mehr willkommen. Damals wollten die Bewohner von Nazareth seine göttliche Herkunft nicht akzeptieren, weil sie ihn doch hatten aufwachsen sehen. Heute wollen auch Gläubige in der Religion nur die Inhalte haben, die man sehen und beweisen kann, und religiöses Leben beschränkt sich zunehmend auf die Einhaltung von Alltagsregeln. Das hat Folgen für Bedeutung des Evangeliums. Als guter Mensch und Prediger der Nächstenliebe geht Jesus gerade noch als Vorbild durch (in Konkurrenz mit vielen anderen), aber von seiner göttlichen Erlösungsaufgabe wollen immer weniger Christen etwas wissen. Wird Jesus doch noch als Messias in den Abgrund gestürzt? Nicht, wenn wir auf Jesus vertrauen. Denn dann haben wir die Hoffnung, dass es heute in unserer Zeit genauso wenig gelingt wie damals: Aber er ging mitten durch sie hinweg.“ (Lukas 4,30) Jesus ist der Messias – auch wenn es immer weniger glauben wollen.

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