Sonntag, 29. Juni 2025

 

Abschied von Galiläa


Jesus war als ältestes von mehreren Kindern in Nazareth aufgewachsen. Aber eines Tages kehrte er seinem Heimatdorf den Rücken und hörte auf, im familiären Zimmermanns-Betrieb zu arbeiten. In seinem neuen Leben begann Jesus in Galiläa als Wanderprediger zu wirken. Besonders die Ortschaften um den See Genezareth waren sein Betätigungsfeld. 
Nazareth hatte Jesus zwar hinter sich gelassen, aber eines Tages kam er in sein Heimatdorf zurück. Dort kannte ihn jeder, und seine Mutter und Geschwister lebten nach wie vor im Ort. Aber inzwischen hatte sich in Nazareth herum gesprochen, dass Jesus, einer der ihren, in Galiläa als religiöser Prediger berühmt geworden war.

Jesus wollte seinen Herkunftsort nicht von seiner Mission ausschließen, sondern das Evangelium auch hier persönlich verkündigen. Am Sabbat begab sich Jesus in die Synagoge. Da man ihn unbedingt predigen hören wollte, reichte man ihm die Jesaja-Rolle mit der Messias-Prophezeiung. Hoffnungsvoll gab sich Jesus den Leuten als der verheißene Messias zu erkennen. Vergebens. Da er von klein auf als unauffälliger Dorfbewohner in Nazareth gelebt hatte, glaubte ihm keiner, und sie vertrieben ihn mit Gewalt aus ihrer Mitte: „Und Jesus wunderte sich über ihren Unglauben. Und er ging rings umher in die Dörfer und lehrte.“ (Markus 6,6) Jesus kehrte nie wieder nach Nazareth zurück, es war nicht seine Art, Zwangsbekehrungen auszuüben. Er brachte das Evangelium in Galiläa zu jenen, die schon sehnsüchtig auf das Kommen des Messias warteten. Jesus rief ihnen zu: Die Zeit ist erfüllt, und das Reich Gottes ist herbeigekommen. Tut Buße und glaubt an das Evangelium!“ (Markus 1,15) und erfüllte mit seinen verheißungsvollen Worten die Herzen seiner Zuhörer mit großer Freude.

Galiläa war eine kleine Provinz im Norden Palästinas mit dem See Genezareth als Wirtschaftszentrum. Regiert wurde der Landstrich von Herodes Antipas. Aber Jesus mied die Residenzen des Fürsten, er biederte sich nie an die Mächtigen an: Und Jesus zog umher in ganz Galiläa, lehrte in ihren Synagogen und predigte das Evangelium vom Himmelreich und heilte Krankheiten und Gebrechen im Volk.“ (Matthäus 4, 23) Seine Botschaft war neu und begeisterte die Menschen. Viele folgten ihm von einem Ort zum anderen, um seine Worte über das ewige Leben im Reich Gottes zu hören.

Das Zentrum von Jesu Missionstätigkeit war Kapernaum, der Wohnort von Simon Petrus und seiner Familie. Im Haus des Jüngers heilte Jesus bei seiner Ankunft dessen Schwiegermutter vom Fieber. Der Meister blieb gern gesehener Gast, und alle Hausbewohner dienten ihm mit Freude. Jesus nahm die Gastfreundschaft gerne an, denn auch er brauchte von Zeit zu Zeit eine Pause, um sich von den anstrengenden Wanderungen zu erholen. Oft zog er sich auch von seinen Jüngern in die Einsamkeit der Natur zurück, hatte aber natürlich auch das Bedürfnis nach körperlicher Hygiene, für die man ein Haus mit seinen Waschmöglichkeiten brauchte. Eine weitere namentlich genannte Familie, die Jesus in seinen Grundbedürfnissen unterstützte, war jenes der drei Geschwister Martha, Maria und Lazarus. Die Anhängerschaft Jesu war groß. Es dienten ihm die Menschen, die in ihm den Messias erkannt hatten, mit großer Begeisterung – jeder auf seine Weise und so gut er konnte. Es gibt nicht nur eine Form der Nachfolge. Paulus, der nach Christi Rückkehr in den Himmel die Weltkirche begründen wird, warnt davor, eine bestimmte fromme Tätigkeit, etwa die Verkündigung oder die Sozialhilfe, überzubewerten und höher zu stellen als andere Dienste im Namen Jesu: „Vielmehr sind die Glieder des Leibes, die uns die schwächsten zu sein scheinen, die nötigsten!“ (1 Korinther 12,22) 

Immer wieder überquerte Jesus mit seinen Jüngern den See Genezareth, was nicht ungefährlich war. Der See, auch Galiläisches Meer genannt, hatte seine Tücken. Boote mussten stets damit rechnen, dass das Wasser von Stürmen aufgewühlt wurde. 

Eines Abends, es dunkelte bereits, äußerte Jesus den Wunsch, mit einem Boot an das andere Ufer hinüber zu fahren. Er war müde und wollte die Zeit zum Schlafen nützen. Jesus zog sich in den hinteren Teil des Schiffes zurück und war gleich auf einem Kissen eingeschlafen. „Und es hob sich ein großer Windwirbel, und die Wellen schlugen in das Boot, sodass das Boot schon voll wurde.“ (Markus 4,37) Die Jünger gerieten in Panik und bekamen Todesangst. Das Boot drohte zu sinken, das rettende Ufer war weit entfernt. Aufgeregt weckten sie den Meister und flehten ihn um Hilfe an: „Und Jesus stand auf und bedrohte den Wind und sprach zu dem See: Schweig und verstumme! Und der Wind legte sich, und es entstand eine große Stille! (Markus 4,39) Betroffen sahen sich die Jünger an: wir sind mit Jesus zusammen und haben trotzdem Angst? Wir wissen doch, dass wir dem Messias nachfolgen? Wieso ist unser Glaube immer noch so wankelmütig? Die Jünger lernten aus ihrem Fehler und folgten nunmehr ihrem Meister verstärkt in dem Bemühen nach, Jesus vorbehaltlos zu vertrauen. Am Ende der Mission Jesu, wenn er gekreuzigt wird, wird ihr Glaube auf eine harte Probe gestellt werden, die sie nur knapp schaffen. Aber darauf kommt es letztendlich an: eine Glaubenskrise zu bestehen. Nach Jesu Rückkehr in den Himmel halten die Jünger am Evangelium fest und tragen die Botschaft des Heilands in die Welt hinaus.

Jesus verband als Prediger die Verkündigung des Evangeliums mit praktischen Beispielen. Er sprach nicht nur vom Reich Gottes in theoretischen Worten, sondern führte durch Heilungen und Naturwunder vor, was die Menschen im Himmelreich Gottes zu erwarten hatten. Sie müssen sich nicht mehr vor Krankheiten fürchten. Und die Natur bringt nicht Verderben und Tod, sondern Wohlergehen und Freude.

In Kapernaum legte Jesus den Grundstein für seine Bekanntheit als religiöser Reformer. Er lehrte in der Synagoge und heilte einen Mann von seinen frommen Wahnvorstellungen. Nachdem er die Schwiegermutter von Simon Petrus vom Fieber geheilt hatte, brachten auch andere Einwohner der Stadt ihre Kranken mit mancherlei Leiden zu ihm. Selbst der römische Hauptmann von Kapernaum kam mit der Bitte zum Rabbi, seinen kranken Knecht, der unter großen Schmerzen litt, gesund zu machen. Die Bewohner wollten unbedingt, dass Jesus bei ihnen bleibt, aber Jesus musste ablehnen: „Ich muss auch den anderen Städten predigen vom Reich Gottes; denn dazu bin ich gesandt.“ (Lukas 4,43)

Den genauen Weg, den Jesus in Galiläa genommen hat, kennen wir nicht, denn die Evangelisten nannten Orte nur im Zusammenhang mit besonders ausführlichen Predigten und Wundertaten. Neben Kapernaum hören wir vom Städtebund Dekapolis, von Magdala, Kana, Nain und einigen mehr. In dem reichen Fischerdorf Bethsaida heilte Jesus einen Blinden.

Für die Jünger und das Volk schien Jesus eine göttliche Mission zu erfüllen, die sich auf Galiläa beschränkte. Immerhin wanderte er nun schon einige Jahre als Prediger durch die Nordprovinz von Palästina. Die Menschen hörten Jesus vom Reich Gottes, das auf Gläubige im Jenseits wartet, reden, machten sich aber keine weiteren Gedanken darüber, dass es dazu noch eines Versöhnungsopfers mit Gott in Jerusalem benötigte.

Dieses religiöse Ritual war an sich nichts Neues, jeder Israelit kannte es und feierte es 1x im Jahr. An diesem höchsten Feiertag, Jom Kippur; wurde es vor dem Tempel von Jerusalem durchgeführt. Der Hohepriester verrichtete selbst alle rituellen Dienste und trat vor Gott, um Vergebung für die Sünden des Volkes Israel im zurückliegenden Jahr zu erbitten. Zwei Lämmer wurden Gott als Blutopfer dargebracht. Der Hohepriester belud die beiden Tiere symbolisch mit den Sünden des Volkes und jagte danach das eine Lamm zum Sterben in die Wüste und schlachtete das andere auf dem Altar. Danach gingen die Leute, mit Gott versöhnt, nach Hause. In einem Jahr werden sie wiederkommen und das Versöhnungsritual wiederholen.

An dieses fromme Ritual der Sündenvergebung knüpft Jesus mit seiner blutigen Hinrichtung am Kreuz an. Er ist das unschuldige Lamm, das getötet wird, um stellvertretend für die sündigen Menschen sein Blut zu vergießen und so den Gläubigen die Vergebung Gottes zu bringen.

Es gibt allerdings einen entscheidenden Unterschied zwischen Jom Kippur und Jesus von Nazareth: sein Blutopfer erbringt der Messias nur einmal, es ist nicht wiederholbar. Denn Gott hat durch das Sterben seines Sohnes gezeigt, dass er zur Versöhnung mit dem sündigen Menschen bereit ist - aber nur, wenn dieser Verantwortung für sein Fehlverhalten gegen Gott übernimmt. Vor der Vergebung kommt die Reue des Sünders. Sie ist wiederholbar, weil der Sohn Gottes sich am Kreuz geopfert hatte.

Die erste Ankündigung seines bevorstehenden Leidensweges kam für die Jünger völlig überraschend. Wovon sprach da der Meister? Die Ältesten und der Hohepriester sowie die Schriftgelehrten wollten Jesus in Jerusalem töten, aber er werde am 3. Tag wieder aufstehen? Besonders fassungslos regierte Simon Petrus: „Gott bewahre dich, Herr! Das widerfahre dir nur nicht!“ (Matthäus 16,22) Jesus sah, dass Petrus nichts von seiner Messianität verstanden hatte und wies ihn zurück: „Du bist mir ein Ärgernis; denn du meinst nicht, was göttlich, sondern was menschlich ist!“ (Matthäus 16,23)

In einer zweiten Leidensankündigung seinen Jüngern gegenüber präzisierte Jesus sein bevorstehendes Schicksal: „Der Messias wird überantwortet werden in die Hände der Menschen, und sie werden ihn töten; und wenn er getötet ist, so wird er nach 3 Tagen auferstehen.“ (Markus 9,31) Die Jünger begriffen nichts, und sie bekamen es mit der Angst zu tun.

Und dann kam der Tag, an dem es nicht mehr bei einer Ankündigung blieb, sondern Jesus seine Mission in Galiläa für beendet erklärte und den Weg nach Süden einschlug. Noch einmal erklärte Jesus seinen Jüngern den Grund für den Ortswechsel: Seht, wir ziehen hinauf nach Jerusalem, und der Messias wird den Hohepriestern und Schriftgelehrten überantwortet werden, und sie werden ihn zum Tode verurteilen und werden ihn den Heiden überantworten, damit sie ihn verspotten und geißeln und kreuzigen; und am dritten Tag wird er auferstehen.“ (Matthäus 20,18.19) Die Jünger waren über diese Worte entsetzt, aber sie gingen mit ihrem Meister mit – in der Hoffnung, dass alles doch nicht so schlimm werden wird. Jesus hatte in Galiläa nur Gutes getan, warum sollte er in Jerusalem gekreuzigt werden?

Nachdem Jesus den Weg in die Provinz Judäa eingeschlagen hatte, blickte er nicht mehr zurück. Er hielt sich an seine Forderung zur rechten Nachfolge: wer sich ihm anschließen will, aber sich umdreht und sein altes Leben nicht zurücklassen kann, ist nicht geeignet für die Nachfolge Jesu Christi: Wer seine Hand an den Pflug legt und sieht zurück, der ist nicht geschickt für das Reich Gottes.“ (Lukas 9,62)

Jesus ließ seine Heimat hinter sich, sie hatte ihren Zweck erfüllt. In Nazareth war er aufgewachsen und hatte in der Familie die religiösen Bräuche, die den Alltag der Israeliten prägten, kennen gelernt. Im Dorf war er offenbar auch in die Schule gegangen, denn er konnte lesen und schreiben. In Galiläa hatte Jesus als Wanderprediger den Grundstein für seine göttliche Mission als Messias gelegt. In Jerusalem würden sein Versöhnungsopfer am Kreuz und seine Auferstehung von den Toten den Schlusspunkt setzen und den Menschen den Weg ins Paradies ebnen.

Abschied von Nazareth, Abschied von Galiläa, Abschied von der Welt: kein Blick zurück, sondern nur das Erklimmen einer weiteren Stufe im Dienste Gottes. Auch wir Menschen durchlaufen viele Phasen in unserem Leben, niemand ist von heute auf morgen glaubensfester Christ. Viele oft steinige Erfahrungen mit Gott sind nötig, um im Glauben Schritt für Schritt weiter bis zu jenem Punkt zu gelangen, an dem man sich nicht mehr umdreht, sondern nur noch der Aufforderung Jesu Folge leistet: „Kommt und seht!“ (Johannes 1,39a) Und angelangt an diesem Punkt kann nichts mehr das Vertrauen in den Heiland erschüttern. Man führt den Pflug nur noch vorwärts.

Sonntag, 9. Februar 2025

Die Kirche Jesu Christi, unseres Herrn


Im Jahre 381 ließ der römische Kaiser Theodosius I. die heidnischen Tempel schließen und das Christentum zur Staatsreligion erheben. Aus der kleinen Gruppe, die sich einst in Galiläa um den Nazarener Jesus versammelt hatte, war durch unermüdliche Missionsarbeit und Festigkeit im Glauben die bestimmende Reichsreligion geworden. Die Jünger hatten den Aufruf ihres Rabbis beherzigt: „Die Ernte ist groß, aber wenige sind der Arbeiter. Darum bittet den Herrn der Ernte, dass er Arbeiter in seine Ernte sende.“ (Matthäus 9,37.38)

Das ist zu Pfingsten passiert. Durch das Eingreifen Gottes, der die Jünger mit dem heiligen Geist erfüllte und dadurch mit dem Mut zur Mission ausstattete, wurden sie zu den ersten Aposteln, die weitere Arbeiter für die Ernte gewannen. Die Jünger traten öffentlich auf als Verkündiger des Messias in der Person des Jesus von Nazareth, der die Hoffnung auf die Vergebung Gottes in die Welt gebracht hatte: Und in keinem andern ist das Heil, auch ist kein andrer Name unter dem Himmel den Menschen gegeben, durch den wir sollen selig werden.“ (Apostelgeschichte 4,12)

Viele, die zu Schawuot, dem Erntedankfest zum Abschluss der Getreideernte, nach Jerusalem gekommen waren und die aufwühlende Rede des Simon Petrus gehört hatten, ließen sich taufen und nahmen das Evangelium mit in ihre Heimat. Die christliche Religion überschritt die Grenze von Palästina. Diese Entwicklung beschleunigten jene Getauften, denen es nicht genügte, im Alltag nach dem Evangelium zu leben. Sie wollten als Missionare zu den Andersgläubigen im Römischen Reich hingehen und sie mit ihren Predigten zur Umkehr und zur Taufe aufrufen. Der Berühmteste unter ihnen war Paulus aus Tarsos, der durch sein unermüdliches Wirken den Grundstein zur christlichen Weltreligion legte. Wichtig war von Anfang an, dass das Christentum als Gemeinschaft wuchs, deren Mittelpunkt allein Jesus Christus ist: Und seid darauf bedacht, zu wahren die Einigkeit im Geist durch das Band des Friedens: ein Leib und ein Geist, wie ihr auch berufen seid zu einer Hoffnung eurer Berufung: ein Herr, ein Glaube, eine Taufe, ein Gott und Vater aller, der da ist über allen und durch alle und in allen.“ (Epheserbrief 4,3-6) Diese Einigkeit zu erhalten sollte sich allerdings im Laufe der Kirchengeschichte als schwieriger erweisen als es in der Euphorie zu Pfingsten erwartet wurde.

Als Jesus noch durch Galiläa wanderte und zu den Menschen vom Gott der Liebe, dem Vater im Himmel, predigte, erzählte er bevorzugt - zum besseren Verständnis - in Gleichnissen aus der bäuerlichen Lebenswelt der Zuhörer. Einer dieser Vergleiche handelte vom Wachstum eines Senfkorns: Das Himmelreich gleicht einem Senfkorn, das ein Mensch nahm und auf seinen Acker säte; das ist das kleinste unter allen Samenkörnern; wenn es aber gewachsen ist, so ist es größer als alle Kräuter und wird ein Baum, so dass die Vögel unter dem Himmel kommen und wohnen in seinen Zweigen.“ (Matthäus 13,31.32) Damit zieht Jesus auch eine Parallele zum Weg des Christentums in der Welt: aus dem monotheistischen Glauben einer Sippe erwuchs es im Laufe von zwei Jahrtausenden zur Weltreligion mit den meisten Mitgliedern. Das Evangelium prägte in immer stärkerem Ausmaß die Zukunft der Menschheit.

Das erste Senfkorn wurde in Mesopotamien gepflanzt, als der Nomade Therach mit seiner Sippe den Süden verließ und in den Norden weiter zog. Warum hat er mit seiner Großfamilie das wohlhabende, komfortable Ur, die Hauptstadt der Sumerer, verlassen und sich im kaum bekannten Haran niedergelassen? War er je Bürger von Ur oder ohnehin nur „durchziehender Nomade“ gewesen? Seine Stütze waren seine drei erwachsenen Söhne Abraham, Nahor und Haran. Das 1. Buch Mose berichtet ausführlich über die Großfamilie des Therach, nennt aber keine Gründe für den Wohnortwechsel. Aber dass ein Plan Gottes dahinter steckte, wird deutlich, als er Therachs ältesten Sohn weiter nach Kanaan schickte und den Rest der Sippe in Haran wohnen ließ - mit einer klaren Botschaft an Abraham: Ich will dich zum großen Volk machen und will dich segnen und dir einen großen Namen machen, und du sollst ein Segen sein.“ (1 Mose 12,2) 

Abraham gehorchte Gott und brachte den Monotheismus, dem er anhing, mit in ein Land, in dem es ausschließlich den Polytheismus gab. Vielen Göttern wurden auf vielen Altären Brandopfer dargebracht. Diesem religiösen Brauch folgte auch Abraham, aber er rief nur den Namen des einzigen Gottes im Himmel an, dessen Willen er mit der Übersiedlung nach Kanaan ausführte. Er hinterfragte Gottes Plan nicht, es würde schon einen Sinn machen: „Deinen Nachkommen will ich dies Land geben. Und Abraham baute dort einen Altar des Herrn, der ihm erschienen war.“ (1 Mose12,7)

Der religiöse Sinn hinter der Patriarchen-Geschichte eröffnete sich Jahrtausende später, nachdem die Sippe des Therach zum Volk der Israeliten herangewachsen war und die Geschichte Kanaans prägte. Die Israeliten hatten Königreiche errichtet, die jedoch nicht von Bestand waren. Politisch blieb die Lage instabil, aber die Religion des Eingottglaubens verfestigte sich. Religiöse Schriften entstanden, die Geschichte und Kult der Jahwe-Verehrung für die nachfolgenden Generationen fest hielten. Aber nicht nur Vergangenheit und Gegenwart fanden sich in den heiligen Schriften, sondern auch die Zukunft: die Ankündigung der Geburt des Messias, der die Menschen von den Sünden erlösen wird: Und es wird ein Reis hervorgehen aus dem Stamme Isais und ein Zweig aus seiner Wurzel Frucht bringen. Auf ihm wird ruhen der Geist des Herrn.“ (Jesaja 11,1.2a)

Nach dem Willen Gottes sollte also gerade von diesem schmalen Küstenstreifen im Vorderen Orient ausgehend der Glaube an den einen einzigen Gott die Welt erobern – durch das Kommen des Heilandes in die Welt. Am Anfang dieser Entwicklung stand die Besiedelung Kanaans durch die Israeliten, die die Verehrung Jahwes als alleinig existierenden Gott mitgebracht und durchgesetzt hatten. Baal und Astarte wurden Schritt für Schritt zurückgedrängt und mussten letzten Endes weichen. Die vielen Götter Kanaans verschwanden aus der Gesellschaft, die Nachkommen Abrahams beteten allein zu Jahwe, errichteten ihm einen einzigen Tempel im Land. Die Saat des Senfkorns, dessen Wachstum Jesus in seinem Gleichnis bildlich dargestellt hatte, war aufgegangen. Der Stamm war dank kräftiger Wurzeln im Erdreich in die Höhe gewachsen, viele junge Triebe verhießen eine fruchtbare Zukunft. Aus dem ersten zarten Pflänzchen war ein junger, kräftiger Baum geworden. Wenn man das Gleichnis umlegt auf die reale historische Situation, bedeutet es, dass das von Gott den nomadischen Erzvätern zugewiesene Siedlungsland bereit war für das Erlösungswerk Gottes, das er allen Menschen auf der Welt anbieten wollte. Es war alles gerichtet für das Kommen des Messias.

Die Zeit der Patriarchen lag viele Jahrhunderte zurück. Aus Kanaan war längst Palästina geworden und gehörte zum Römischen Reich, als in dieser politisch wenig beachteten Gegend der prophezeite Messias geboren wurde: „Denn also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, damit alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben.“ (Johannes 3,16) Mit der Geburt des Jesus von Nazareth, des Heilands, den Gott als Hoffnung für die Sünder in die Welt gesandt hatte, begann sich eine Veränderung im religiösen Leben der Menschen zu vollziehen. Der Glaube an den einzigen Gott, der das Wesen des Volkes Israel prägte, begann mit Jesu Geburt seinen Siegeslauf zu jenen Völkern, die zu dieser Zeit in ihren Tempeln noch immer ihren vielen Göttern huldigten und Opfer darbrachten. Sie ließen sich durch die Missionare vom Evangelium überzeugen und schworen ihren vielen Göttern, die ihren religiösen Sinn verloren hatten, ab. Das Evangelium vom Sühneopfer Jesu am Kreuz und seiner Auferstehung am 3. Tag vermittelte den Heiden ein ganz neues Gottesbild: es ging um die Vergebung von Schuld durch einen gnädigen Gott und das ewige Leben im Paradies nach dem Tod. Und Jesus von Nazareth, der verheißene Messias, war der Schlüssel, der die Tür zum Reich Gottes im Jenseits öffnete: Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, der wird leben, auch wenn er stirbt; wer da lebt und glaubt an mich, der wird nimmermehr sterben.“ (Johannes 11,25.26) Die Vergebung der Sünden durch einen liebenden Gott ohne Gegenleistung und die Auferstehung von den Toten am Ende der Zeit für ein ewiges, glückliches Leben im Reich Gottes gaben den Menschen in ihrem Erdendasein einen neuen religiösen Sinn. Sie lernten die Geborgenheit durch einen beschützenden Gott kennen, an den sie sich jederzeit im Gebet wenden konnten.

Den Grundstein zur christlichen Weltreligion hat Jesus von Nazareth dadurch gelegt, dass er als Wanderprediger in Galiläa die kultischen Gesetze der Tora neu auslegte und sie zu einer Ethik des Evangeliums umformte, die auch die Anhänger polytheistischer Religionen in ihrem Alltagsleben übernehmen konnten. So hat Jesus etwa die strengen Reinheitsvorschriften abgelehnt und während seines Wirkens als Prediger auch nicht eingehalten. Er konnte am Genuss bestimmter Speisen, die als verboten galten, nichts religiös Verwerfliches erkennen: Was zum Mund hinein geht, das macht den Menschen nicht unrein; sondern was aus dem Mund herauskommt, das macht den Menschen unrein.“ (Matthäus15,11) Und damit meinte Jesus u.a. böse Gedanken, Mord, Ehebruch, Diebstahl, Lüge, Lästerungen. So machte Jesus das Essen einfach zu dem, was es eben ist: Essen zur Ernährung und kein religiöser Verdienst, mit dem man Gott beeindrucken kann. Jesus ersetzte die Befolgung von Kultvorschriften durch den Glauben, der allein auf der Gesinnung beruhte. Gottes Liebe konnte man als Christ nicht mehr durch fromme Übungen erlangen. Die Getauften begannen ein neues Leben, das nur auf dem Vertrauen auf den Messias fußte: „Ich bin in die Welt gekommen, als ein Licht, damit, wer an mich glaubt, nicht in der Finsternis bleibe.“ (Johannes 12,46)

Die Botschaft vom Evangelium richteten die Missionare an alle, die sie hören wollten – so wie Jesus einst in Galiläa zu einer sehr gemischten Menschenmenge gesprochen hatte. Das war für die urchristliche Gemeinde das Charakteristikum, dass sie aus allen Gesellschaftsschichten und aus jedem Alter bestand und alle gleichwertig waren. Jeder, der sich taufen lassen wollte, war willkommen: „Denn ihr alle, die ihr auf Christus getauft seid, habt Christus angezogen. Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus.“ (Galaterbrief 3,27.28)

Das Christentum breitete sich im Römischen Reich unaufhaltsam aus. Der Baum, der aus dem Samen des Senfkorns in Galiläa heran gewachsen war, strebte in die Höhe und entfaltete sein breites Geäst. So hatte Jesus von Nazareth es in seinem Gleichnis angekündigt, dass das kleine Senfkorn, wenn es gewachsen ist, „größer wird als alle Kräuter und ein Baum, so dass die Vögel unter dem Himmel kommen und wohnen in seinen Zweigen.“ (Matthäus 13,32b) 

Kaiser Konstantin hatte begriffen, dass die christliche Religion nicht mehr zu besiegen war und die alten Götter des Römischen Reiches ausgedient hatten. Deshalb erklärte er 313 das Christentum zur „erlaubten Religion“ und förderte sie sehr. Die Folge war, dass die Mitgliederzahlen sehr schnell anstiegen. Und als Kaiser Theodosius I. das Christentum 381 zur allein zugelassenen Staatsreligion erhob, erschien die Zukunft der Kirche in rosigem Licht.

Aber mit der religiösen Machtposition kamen die theologischen Streitigkeiten, und die Einheit der christlichen Kirche ging im Laufe ihrer mehr als 2000jährigen Geschichte unwiederbringlich verloren. Der eine starke Stamm, der die üppige Baumkrone trug, teilte sich zuerst in zwei kräftige Äste, danach musste einer von ihnen eine weitere Abspaltung erleben. Es waren zwei entscheidende Ereignisse, die diese nachhaltigen Veränderungen für die christliche Gemeinschaft mit sich brachten - und die bis heute andauern. Es handelt sich dabei um den Bruch zwischen Ost- und Westkirche im 11. Jh. und die Reformation im 16.Jh. Doch weder Verfolgungen noch dogmatische Streitigkeiten konnten das Anwachsen des Christentums bremsen oder gar beenden. Krisen und Streitigkeiten bis hin zu Konfessionskriegen gab es mehr als genug, aber der Glaube an Jesus Christus und sein Erlösungswerk erwiesen sich als starkes Fundament. Der Baum blieb groß und üppig, das Christentum die größte Weltreligion.

Die christliche Kirche ist eine Gemeinschaft, die im Glauben vereint ist. Ihr Fundament ist der Messias: „Einen andern Grund kann niemand legen als den, der gelegt ist, welcher ist Jesus Christus.“ (1 Korintherbrief 3,11) Jeder, der sich taufen lässt, trägt seinen Teil dazu bei, dass der Baum, der aus dem Senfkorn gewachsen ist, weiter kräftig nach oben strebt und sich seine Baumkrone nach allen Seiten üppig ausdehnt. Kein Kirchenmitglied ist eine Nebensache, jeder einzelne trägt zum Gelingen bei. Da Menschen unterschiedliche Begabungen haben, gab es von Anfang an verschiedene Aufgabenverteilungen, je nach persönlichen Fähigkeiten, aber alle gleich wichtig und keines entbehrlich, denn: Es sind verschiedene Ämter, aber es ist ein Herr. Es sind verschiedene Kräfte; aber es ist ein Gott, der da wirkt alles in allen.“ (1 Korintherbrief 12,5.6)

Der stetig wachsende Erfolg des Christentums scheint zu erklären, warum Jesus in seinem Gleichnis die Möglichkeit einer Erkrankung des Baumes nicht anspricht. Der Psalmist unterstreicht den Baum-Vergleich mit einem idyllischen Bild: Der Fromme ist wie ein Baum, gepflanzt an Wasserbächen, der seine Frucht bringt zu seiner Zeit, und seine Blätter verwelken nicht. Und was er macht, gerät wohl.“ (Psalm 1,3) 

Nun müssen wir aber feststellen, dass der Senfkorn-Baum, der symbolisch für das Christentum steht, doch krank geworden ist. Seine Blätter werden welk und fallen zu Boden, und das hat nichts mit dem Herbst zu tun. Das Geäst dünnt aus, viele Zweige verdorren. Ein erschreckendes, neues Bild, welches das Gleichnis vom Senfkorn ergänzt. Es drängen sich Fragen nach dem Warum auf: Haben die Wurzeln keinen festen Halt mehr im Boden und schwächen den Baum? Liegt es daran, dass es immer weniger Fromme gibt, und dass der Glaube an den Messias Jesus von Nazareth mangels Interesse verloren geht? 

Danach sieht es aus, die Finsternis scheint sich über das Licht zu legen. Aber wer an die Worte des Herrn glaubt, hat keine Angst davor, dass die christliche Lehre zu einer belächelten Nischenreligion verkommen wird. Denn Jesus hat den Menschen ein Versprechen gegeben: „Himmel und Erde werden vergehen; aber meine Worte werden nicht vergehen.“ (Matthäus 24,35) Und wenn man sich die Geschichte der Kirche anschaut, begreift man, dass Jesus nicht nur dann helfend eingreift, wenn einzelne Christen seinen Schutz brauchen, sondern auch die Kirchengemeinschaft. 

In dem Vertrauen auf unseren Herrn und Heiland Jesus Christus können wir auch weiterhin unbeirrt daran glauben, dass der aus dem Senfkorn gewachsene Baum sich erholt und die Zukunft des Christentums dem Ende des Gleichnisses entspricht: Er wird größer als alle Kräuter und ein Baum, so dass die Vögel unter dem Himmel kommen und wohnen in seinen Zweigen.“ (Matthäus 13,32b)